Gibt es ein Leben nach der Demokratie?

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Mit Leidenschaft und einer poetischen Sprache schreibt Arundhati Roy in ihrem neuen Buch „Aus der Werkstatt der Demokratie“ (S. Fischer Verlag) über religiöse und politische Ausgrenzung, über kulturelle und wirtschaftliche Missstände und über den Zustand der Demokratie.

In was für einer Demokratie leben wir heute eigentlich? Was für Auswirkungen hat der ungezügelte Kapitalismus auf unsere Demokratie? Schon der Philosoph Peter Sloterdijk hat dies in seinem Buch „Weltinnenraum des Kapitals“ behandelt. Er beschreibt darin den sich abzeichnenden Veränderungsdruck des globalen Kapitals auf die nationalen Demokratien. Die Freiheitsspielräume, so Sloterdijk, gehen zunehmend verloren, und wir erleben nichts anderes als den Übergang zu postliberalen Formen: „Man hat die Wahl zwischen einem eher parteidiktatorischen Modus wie in China, einem staatsdiktatorischen Modus wie in der Sowjetunion, einem stimmungsdiktatorischen Modus wie in den USA und schließlich einem mediendiktatorischen Modus wie in Berlusconis Italien. Der Berlusconismus ist der europäische Testballon der neo-autoritären Wende.“

Arundhati Roy: „Kann etwas, was mutiert, wieder werden, was es einmal war?“

Arundhati Roy: „Kann etwas, was mutiert, wieder werden, was es einmal war?“

Mit der Frage, in was für einer Demokratie wir heute überhaupt leben, beschäftigt sich Arundhati Roy in ihrem neuen Buch „Aus der Werkstatt der Demokratie“. Die Frage nach einem Leben nach der Demokratie richte sich an alle, die bereits in einer Demokratie lebten oder in Ländern, die vorgeben, demokratisch zu sein. Diese Frage, so Roy, ziehe nicht darauf ab, dass wir auf ältere, verrufene Modelle totalitärer oder autoritärer Staatsführung zurückgreifen sollen. Sie soll vielmehr darauf hinweisen, dass das System repräsentativer Demokratie strukturelle Anpassungen bedarf.

In ihrem Essayband analysiert Arundhati Roy die wirklichen Verhältnisse in Indien, der „Lieblingsdemokratie der Welt“. Sie spricht über die religiöse und politische Ausgrenzung, über kulturelle wie wirtschaftliche Missstände im Subkontinent. Die Demokratie und die freie Martkwirtschaft sei heute zu einem einzigen Raubtier verschmolzen, dessen dürftige, beschränkte Phantasie nahezu ausschließlich um die Frage der Profitmaximierung kreise. „Kann etwas, was mutiert, wieder werden, was es einmal war?“, fragt Roy.

„Was wir heute brauchen, damit unser Planet überlebt“, schreibt Roy, „sind langfristige Visionen. Sind Regierungen, deren eigenes Überleben abhängig ist von sofortigem, kurzfristigem Gewinn, dazu in der Lage? Kann es sein, dass die Demokratie sich als das Endspiel der menschlichen Rasse erweisen wird?“

Die Aufsätze in diesem Buch enthalten keine Antworten auf diese Fragen, sondern demonstrieren nur die Tatsache, dass es so aussieht, als würde das Leuchtfeuer erloschen und die Demokratie vielleicht nicht länger jener verlässliche Garant für Gerechtigkeit und Stabilität sein, den wir uns erträumt haben, so Roy.

Die Aufsätze wurden über die Jahre geschrieben als dringliche Verlautbarungen zu kritischen Zeitpunkten in Indien, wie etwa während des vom Staat gedeckten Genozids an Muslimen in Gujarat. Die Aufsätze handeln nicht von bedauerlichen Anomalien oder Verirrungen des demokratischen Systems, sondern sie handeln von den Folgen von und für die Demokratie. Sie sind ein detaillierter Blick von unten auf spezifische Ereignisse, von dem Roy hoffe, das er einige Funktionsweisen der größten Demokratie der Welt bloßlege.

Indien war eins eine führende Nation der Bewegung der Blockfreien Staaten. Sehr schnell veränderte sie aber ihren Kurs und schloss sich rückhaltlos den Vereinigten Staaten an, „dem Monarchen der neuen unipolaren Welt“ (Arundhati Roy).

Die Hauptakteure dieser „neuen Weltordnung“ ändern nach Roy auch die Sprache, in dem bestimmte Terminologien oder Begriffe heute eine neue Bedeutung bekommen und die gezielt zu bestimmten Zwecken eingesetzt werden. „Freiheit“ etwa bedeute heute „Wahlfreiheit“. Sie habe weniger mit geistiger Freiheit zu tun als mit verschiedenen Deodorantmarken. „Markt“ sei nicht mehr der Ort, zu dem man geht, um einzukaufen. Der „Markt“ sei ein Raum ohne Territorium, in dem gesichtslose Konzerne Geschäfte machten. „Gerechtigkeit“ sei jetzt gleichbedeutend mit „Menschenrechten“, und davon, so Roy, reichten ein paar wenige. Dieser Sprachdiebstahl, diese Technik, sich Wörter anzueignen, um die eigenen Absichten zu verschleiern, sie so zu benutzen, dass sie das Gegenteil von dem bedeuteten, was sie traditionellerweise bedeutet hatten, sei nach Roy der brillianteste strategische Sieg der Zaren des neuen Zeitalters gewesen. Durch diesen Sprachraub habe man ihre Gegner marginalisiert, ihnen die Sprache weggenommen, in der sie ihre Kritik hätten vorbringen können. Vielmehr würden diese Gegner als „fortschrittfeindlich“, „wachstumsfeindlich“, „reformfeindlich“ und als „antinational“ abgestempelt.

Die Entwicklungen in den vergangenen zwei Jahrzehnten habe in Indien eine große Mittelschicht geschaffen, die vollkommen berauscht sei von ihrem plötzlichem Wohlstand und dem damit einhergehenden unerwarteten Respekt. Arundhati Roy beschreibt die Kehrseite dieser Medaille. Sie schreibt von den Millionen Menschen, die enteignet wurden, und ihr Land infolge von Überschwemmungen, Dürren und Wüstenbildung verlassen mussten. Diese sind, betont Roy, die Folgen willkürlicher Umweltzerstörung und massiver Infrastrukturprojekte, wie etwa der Bau von Staudämmen, Förderanlagen für Bodenschätze und Sonderwirtschaftszonen. Das Argument, dass dies alles angeblich zugunsten der Armen erfolge, seit schlichtweg falsch. Vielmehr bediene es die steigende Nachfrage der neuen Aristokratie.

Es herrscht ein regelrechter Kampf um das Land in Indien. Der derzeitige Finanzminister Indiens, Chidambaram, verfolgt die Vision, dass 85 Prozent der indischen Bevölkerung in den Städten leben sollten. Woher diese „Vision“ kommt, ist unschwer zu erraten: Bevor Chidambaram Finanzminister wurde, war er Anwalt von Enron und Mitglied des Aufsichtsrats von Vedanta, eines multinationalen Bergbaukonzerns, der im Augenblick, so Roy, die Niyamgiri-Hügelkette in Orissa zerstöre. Nach Roy haben die Prozesse bereits eingesetzt, um die Vision zu verwirklichen. Indien verwandele sich immer mehr zu einem Polizeistaat, in dem Menschen, die ihr Land nicht freiwillig aufgeben, mit vorgehaltener Pistole dazu gezwungen werden. Dieser Vision liege das Vorhaben zugrunde, weite Landstriche und die gesamten natürlichen Ressourcen Indiens zur Plünderung durch Privatfirmen freizugeben. In Indien könne man von einem „Ökozid“ sprechen, schreibt Roy. Das Oberste Gerichtshof habe neulich angeordnet, dass Indiens Flüsse miteinander verbunden werden müssten wie ein künstliches Bewässerungssystem. Das Gericht begründet dieses Vorhaben mit der absurden Annahme, dass ein ins Meer fließender Fluss eine Verschwendung von Wasser sei. Arundhati Roy weist darauf hin, dass der Richter, der diese Entscheidung fällte, nach seiner Pensionierung – wie es der Zufall so will – Mitglied des Umweltrats von Coca-Cola wurde.

Besonders die indischen Bauern leiden unter dieser Situation. Da die landwirtschaftlichen Anbauflächen immer mehr unfruchtbar werden, geraten die Kleinbauern schnell in eine Schuldenfalle. Die Selbstmordrate unter den Bauern hat erschreckende Dimensionen erreicht. In den letzten Jahren sollen über 180 000 indische Bauern Selbstmord begangen haben. Obwohl die staatlichen Kornspeicher übervoll sein und Indien ein stabiles Wirtschaftswachstum vorweise, nähern sich die Zahlen der Hungertoten und Unterernährten denen von Schwarzafrika. Die auf Feudalismus und Kastenwesen basierende alte Gesellschaft Indiens, würde in diesem Vorgang der letzten Jahre durchgeschüttelt, so Roy. Dieser Vorgang habe allerdings die meisten der Ungleichheiten verstärkt und nicht beseitigt.

Arundhati Roy beschreibt in ihren Essays die zeigenössische Korrelation zwischen Einheit und Fortschritt, oder auch als Nationalismus und Wachstum bezeichnet. Dieser Zusammenhang zwischen „Einheit“ und „Fortschritt“ bezeichnet sie als die „unantastbaren Zwillingstürme der modernen Demokratie und der freien Marktwirtschaft. Die extremen Folgen davon könne man sehr gut an der rechtsgerichteten Bharatiya Janata Patei (BJP) in Indien festmachen. Die BJP viel Anfang der 90er Jahre durch ihre giftige Kampagne für den Hindu-Nationalismus auf. Sie hetzte etwa 1993 in Mumbai gezielt die Bevölkerung gegen die Muslime auf. Tausende Muslime kamen dabei ums Leben. Das war jedoch kein Einzelfall. In anderen Landesteilen kam es zu ähnlichen Unruhen. Nachdem die BJP 1998 die Regierung übernahm, stürzte sich die BJP begeistert auf die freie Marktwirtschaft und stellte sich mit ihrem ganzen Gewicht hinter riesige Firmen wie Enron, so Roy, obwohl sie im Wahlkampf die wirtschaftlichen Reformen der Vorgängerregierung als Akte der „Plünderung durch Liberalisierung“ dargestellt habe. Roy betont, dass es kein Zufall gewesen sei, dass die nationalistische Hindutva-Bewegung in dem historischen Augenblick erfolgreich war, als Amerika den Kommunismus als Erzfeind aufgab und mit dem Islam ersetzte.

In dem nicht erklärten Bürgerkrieg in Indien sind in erster Linie die indischen Muslime betroffen, aber zunehmend werden auch Christen und andere religiöse und politische Minderheiten verfolgt. In ihrer Eröffnungsrede für das 9. Literaturfestival in Berlin warnte kürzlich Arundhati Roy vor einer weiteren Eskalation der Lage. Neue Gesetze kriminalisierten jegliche – auch friedliche – Opposition. Zahlreiche Menschen seien bereits in Haft.

Wenn es uns nicht gelingt, diesen Bürgerkrieg zu stoppen“, so Arundhati Roy, „ werden zwei unterschiedliche Arten von Krieg konvergieren, die seit Jahrzehnten in Indien geführt werden: der „Antiterrorkrieg“ der indischen Armee gegen die Völker von Kaschmir, Nagaland und Manipur und der Krieg um Rohstoffe und natürliche Ressourcen, ein Prozess, der auch gern als „Fortschritt“ bezeichnet wird.“

© Eren Güvercin

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