Warum wir so unglaublich viel Essen in den Müll werfen und den Konsumenten in fettmachenden Umgebungen der qualitätsvolle Umgang mit Nahrungsmittel beinahe vollständig verloren gegangen ist. Ein Gespräch mit Tanja Busse
Das Ziel muss sein, eine möglichst große Ernährungssouveränität zu erreichen, individuell, wie gemeinschaftlich, dafür plädiert Tanja Busse, die 2006 den aufgeklärten Konsumenten als „gesellschaftliche Macht“ beschrieb. Nun hat sich Busse, die gelegentlich auch eine Hommage an Weinkorken für Greenpeace
verfasst, die
„Ernährungsdiktatur“ vorgeknöpft.
Der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Jean Ziegler, sagt, dass ein Kind, das in einer Welt, die genug Lebensmittel produziert, an Hunger stirbt, ermordet wird. Obwohl wir heute mehr Lebensmittel produzieren als je zuvor in der Geschichte der Menschheit, haben aber auch noch nie so viele gehungert wie heute. Wie kann das überhaupt sein?
Tanja Busse: Es ist eine Menschheitskatastrophe, erstens, dass wir den Hunger zulassen und zweitens, dass es uns in den reichen Ländern kaum kümmert, dass Jahr für Jahr Millionen Menschen elendig zu Grunde gehen. Die Gründe liegen unter anderem in der Dominanz der Ökonomie vor den Menschenrechten. Den Akteuren aus der Wirtschaft ist es in den letzten Jahrzehnten gut gelungen, ihre Interessen politisch durchzusetzen, zum Beispiel durch Freihandelsabkommen etc. Die Menschenrechte aber haben nicht so eine finanzstarke Lobby: Sie gelten nur formal, können aber nicht eingeklagt werden.
Das ändert sich nur ganz langsam, durch den beständigen Druck von Organisationen wie zum Beispiel FIAN. Die Gründe für den Hunger sind vielfältig, und in vielen Fällen muss man auch den Regierungen der armen Länder eine Teilschuld zuweisen. Doch Korruption oder Misswirtschaft in Entwicklungsländern dürfen nicht als Entschuldigung für unsere Untätigkeit gelten.
Die Industrieländer sind Mitverursacher des Hungers in den armen Ländern: Durch die Spekulation mit Agrarrohstoffen, durch massive Importe von Futtermitteln aus Ländern, in denen gehungert wird, durch die Förderung von Mais und Palmöl als Energiepflanzen, durch die Unterstützung korrupter Regierungen aus politischen Gründen, durch die erzwungene Einbindung der Landwirtschaft in das WTO-Regelwerk. Das alles wird sich in den kommenden Jahren aller Wahrscheinlichkeit nach noch verstärken, weil der Klimawandel ausgerechnet denen, am meisten schaden wird, die ihn am wenigsten verursacht haben.
Preissprünge bei Lebensmitteln können künftig zum Sicherheitsproblem werden
Wie kann man diese Krankheit des Systems den Menschen bewusst machen? Besonders den Menschen im Westen, die von den Schattenseiten des Weltwirtschaftssystems direkt nicht betroffen sind?
Tanja Busse: Es gibt ja eine Reihe von Büchern, die auf diesen Zusammenhang hinweisen. Und es gibt viele Aktivisten aus der Umwelt- oder Menschenrechtsbewegung, die immer wieder auf diese Ungerechtigkeit hinweisen. Das Problem ist, dass die übliche Darstellung für uns leichter zu ertragen ist. „Die armen Kinder in Afrika haben Hunger und wir sind so gütig und helfen ihnen mit Spenden!“, dieser Gedanke fühlt sich natürlich besser an als die traurige Wahrheit: „Auch wir sind in diese Ungerechtigkeit verstrickt, wir essen den Armen den Teller leer!“ Das ist nur schwer zu ertragen – vor allem, wenn man nicht recht weiß, was man dagegen tun soll.
Aber einigen Prognosen zufolge könnte sich das schnell ändern, dass wir in den reichen Ländern von den Schattenseiten nicht betroffen sind. Der Klimawandel wird vermutlich viele Menschen aus ihrer Heimat vertreiben und zu Flüchtlingen machen. Und die erwarteten Preissprünge bei Lebensmitteln werden auch zum Sicherheitsproblem werden. Das heisst, langfristig werden auch wir diese Schattenseiten zu spüren bekommen. Die Finanzkrise – eine Folge der politischen Unfähigkeit, funktionierende Regeln zu schaffen – hat uns ja gezeigt, wie verwundbar wird sind, wenn die Politik vor der Wirtschaft in die Knie geht.
Hat man als Konsument überhaupt die Wahl?
In dem Untertitel Ihres Buches „Ernährungsdiktatur“ heißt es, dass wir nicht länger essen dürfen, was uns die Industrie auftischt. Hat man als Konsument überhaupt die Wahl? Wie kann man konkret etwas unternehmen?
Tanja Busse: Man kann einen eigenen Gemüsegarten anlegen und versuche, sich selbst zu versorgen! Das klingt wie ein lustiges kleines Experiment angesichts der bedrohlichen Lage, aber ich meine das durchaus ernst: Denn wer auch nur auf einer winzigen Fläche eine winzige Menge Gemüse produziert, versteht, wie wertvoll Lebensmittel sind und wie viel Ressourcen dafür nötig sind, Boden, Wasser, Arbeitskraft. Dieser Respekt ist uns im Überfluss der Konsumgesellschaft verloren gegangen. Deshalb werfen wir so unglaublich viel Essen in den Müll.
Was man sonst noch tun kann: Weniger Fleisch (und Milchprodukte) essen, denn Fleischproduktion und Rinderhaltung verstärken den Klimawandel. Und der Anbau von Futtermitteln für das Vieh steht in Konkurrenz zum Anbau von Lebensmitteln. Und die Klassiker: Regional, saisonal und ökologisch essen! Mehr kochen und weniger Fertigessen kaufen – um die Nahrungskompetenz nicht an große Konzerne zu verlieren!
Etikettenschwindel und die Macht des Einzelnen
Sie klagen den Etikettenschwindel in den Supermärkten an, und versuchen durch E-Mails die Lebensmittelindustrie bloß zu stellen. Hat dies überhaupt Erfolg? Kann man dadurch etwas erreichen gegen die große Marketingmaschinerie der Konzerne?
Tanja Busse: Ja, in einem Fall ist es mir gelungen: Der Milchkonzern Campina hat eine Rote Grütze ohne Früchte verkauft, was laut Deutschem Lebensmittelgesetzbuch nicht geht. Das habe ich dem zuständigen Chemischen und Veterinäruntersuchungsamt mitgeteilt, das mir erst antwortete, nein, das Etikett gehe in Ordnung, weil der Becher durchsichtig sei: Der Verbraucher könne also sehen, dass keine Früchte im Becher seien. Das kam mir doch sehr absurd vor – warum gibt es denn dann ein Irrreführungsverbot, wenn man sich doch auf den Augenschein verlassen muss? Das habe ich die Behörde gefragt – und bekam die überraschende Antwort: Campina muss das Etikett ändern (mehr dazu hier).
Das zeigt, dass wir als Konsumenten durchaus etwas erreichen können! Wir müssen uns nur wehren und den Behörden zeigen, dass wir uns nicht anlügen lassen wollen! Je mehr Leute Protest-E-Mails schrieben, desto eher reagieren die Kontrolleure.
Fettmachende Umgebung
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass nicht nur nie so viele gehungert haben wie heute, sondern dass auch nie so viele Menschen an Fettleibigkeit litten wie heute. Ist es da nicht zu einfach, wenn man sagt, dass das die alleinige Schuld der Lebensmittelindustrie ist?
Tanja Busse: Ja, das ist zu einfach. Im Buch erläutere ich deshalb den Begriff „obesogenic environment“. Das ist der Fachbegrifff der amerikanischen Fettleibigkeitsforscher für unsere fettmachende Umgebung. Dabei kommen viele Faktoren zusammen: die genetische Veranlagung, die Lebensumstände und die emotionale Lage des Einzelnen, aber auch sein Umfeld und das Nahrungsangebot. Wenn ich jemandem ständig Zuckerriegel und Chipstüten unter die Nase halte, wird er sehr viel eher so dick, dass er krank wird, als wenn er drei Mal am Tag gesunde Mahlzeiten bekäme, am Tisch mit Familie oder Freunden. Die Lebensmittelindustrie aber hat ein ökonomisches Interesse daran, uns günstige Zutaten für viel Geld zu verkaufen, und das sind nun mal Dinge wie Snacks oder lange haltbare Fertigprodukte.
Unsere Gesellschaft hat leider entschieden, dass wir so gut wie überall von Werbung belästigt werden dürfen, das bringt besonders Kinder dazu, Plastikessen für etwas Leckeres, Tolles zu halten und ihr Geld dafür auszugeben. Auch das verstärkt den Verfall.
Doch eigentlich könnte es anders gehen
Kann die Politik etwas gegen die „Ernährungsdiktatur“ unternehmen?
Tanja Busse: Klar könnte sie. Wenn sie wollte.Zum Beispiel das Irreführungsverbot in der Werbung durchsetzen. Oder am besten gleich Werbung für ungesundes und überflüssiges Zeugs verbieten. Überhaupt: Man könnte Kinder vor dem Kaufzwang schützen. Dass Kinderfilme für Werbung unterbrochen werden, ist ein Kulturverlust, an den sich alle schon so gewöhnt haben, dass niemand etwas dagegen unternimmt.
Doch eigentlich könnte es anders gehen. Eigentlich müssten Kinder die Chance haben, ihren eigenen Geschmack zu entwickeln, ohne dass ihnen ständig jemand vorsagt, dass sie Buntes, Eingepacktes und Aromatisiertes aus der Plastiktüte bevorzugen sollen, wenn sie cool sein wollen. Weiter: Kantinen für Schulen, Kindergärten und andere öffentliche Einrichtungen fördern und dort regionales, saisonales Essen aus Bio-Anbau anbieten. Und sie müsste die externen Kosten auf die Preise schlagen: Wenn die ökologischen Schäden, die die industrialisierte Landwirtschaft anrichtet, auf die Preise aufgeschlagen würden, wären Bio-Lebensmittel nicht mehr teurer als die sogenannten „konventionellen“.
Dann gäbe es einen faireren Wettbewerb. Die Politik müsste auch das Tierschutzgesetz durchsetzen: Wenn ein privater Tierhalter seine Tiere nicht füttert und tränkt, bekommt er sofort eine Strafe. Viele Amtstierärzte stellen immer wieder fest, dass in der sogenannten Intensivgeflügelmast bis zu drei Prozent der Tiere so schnell gemästet werden, dass sie am Ende ihrer Mast nicht mehr zum Wasser und zum Futter laufen können – vor Schmerzen. Das widerspricht dem gesetzlichen Verbot, Tiere zu quälen – und wird dennoch toleriert. Und natürlich gibt es politischen Handlungsbedarf auf der globalen Ebene: Die Spekulation mit Agrargütern muss verboten werden, die Agrarstruktur muss in allen Ländern so ausgerichtet sein, dass zunächst die Bedürfnisse der Menschen befriedigt werden müssen. Erst danach darf für den Export angebaut werden. Das Ziel muss sein, eine möglichst große Ernährungssouveränität zu erreichen – wie das gehen könnte, steht im Weltagrarbericht, den die Bundesregierung aber nicht einmal unterzeichnen möchte.