„Die Paranoia ist eine Extremform der Gewissheit“

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Der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider über die Rationalität des übertrieben besorgten Menschen

Von Caesar bis John Lennon, von der Bombe gegen Hitler bis zum 11. September: Der Germanist Manfred Schneider beschreibt in seinem neuen Buch Das Attentat – Kritik der paranoischen Vernunft den Furor von Attentätern und die wahnhafte Reaktion der Gesellschaft darauf. Ein Gespräch über ein mächtige Art der Weltwahrnehmung.

Der Freitag: Sie versuchen Paranoia als eine Form der Vernunft zu beschreiben. Wie kann Paranoia vernünftig sein?

Manfred Schneider: Die Paranoiker sind nicht selten genial in ihrer Fähigkeit, aus winzigen Zeichen und flüchtigen Daten weitgehende Schlüsse zu ziehen. Allgemein verstehen wir unter Vernunft die intellektuelle Leistung, Ereignisse mit den zu ihnen gehörigen Ursachen zu verbinden. Der literarische Typus, der diese Rationalität als Genie verkörpert, ist Sherlock Holmes. Immer sieht er mehr, entdeckt Spuren und Zeichen, die andere übersehen haben. Und am Ende kombiniert er besser als seine Kollegen. Auch der Paranoiker arbeitet nach dieser Methode und in der Überzeugung, dass er mehr sieht und versteht.

Gibt es noch andere Beispiele?

Nehmen Sie Karl Kraus. Er zählt zu den wenigen Autoren und Intellektuellen in Österreich, die nach 1914 die Politik der deutschen und österreichischen Regierung im Ersten Weltkrieg scharf kritisierten. Wie hat er es geschafft, sich der allgemeinen Kriegshysterie zu entziehen? Er hat die Presse grundlegend unter Verdacht gestellt, dass sie die Dinge entstelle, dass sie die Ereignisse beschönige und die Fähigkeit der Leser ruiniert habe, sich die Schrecken und Verbrechen des Krieges vorzustellen. Karl Kraus hat die Presse für das größte Weltübel gehalten. Das war zwar paranoisch, aber seine Kritik an der Kriegspresse war vollkommen richtig. Er war insofern ein wahnhafter Interpret, aber aus diesem Wahn heraus hat er die Zeichen seiner Zeit korrekt interpretiert.

Was bedeutet das?

Der einzelne Paranoiker ist keineswegs verwirrt in seiner Wahrnehmung oder in seinen mentalen, logischen Leistungen ein­geschränkt. Er ist übervernünftig. Ein Psychiater hat einmal gesagt, dass der Paranoiker nicht seine Vernunft verloren hat, sondern alles außer seiner Vernunft. Verloren hat er die Begleitoperationen jeder Erkenntnis: die Intuition, den Zweifel, die Selbstkritik, die Fähigkeit, eine Vermutung erst einmal auf Probe zu stellen. Das Motto meines Buches stammt von Nietzsche und lautet: „Nicht der Zweifel, die Gewissheit ist das, was wahnsinnig macht…“ Die Paranoia ist eine Extremform der Gewissheit.

Wenn man von Attentaten spricht, dann denken viele sofort an den 11. September 2001. Sie sprechen hier vom „Ikonoklasmus der Türme“. Welche Rolle spielt dieses Attentat?

Ich versuche zu zeigen, dass die politischen Attentäter von Brutus bis Mohammed Atta auch als Bilderstürmer auftreten. Der Attentäter kennt sein Opfer allein von Bildern her, von Porträts, Fotos, von Karikaturen oder aus dem Fernsehen. Der Mächtige ist für ihn ein falsches oder gefälschtes Bild des Friedens, der Gerechtigkeit, der Nation oder der Freiheit, die er ersehnt. Dieses falsche Bild muss verschwinden! Es ist ja nichts Neues, dass sich auch politische Gewalt auf Bilder richtet. Die Reformatoren vernichteten nach 1519 Heiligenbilder, die Französische Revo­lution stürmte 1789 Altäre, der deutschen Vereinigung von 1989 fielen Bilder und Straßennamen von prominenten Kommunisten zum Opfer.

Vor dem Hintergrund dieser Tradition ist das ungeheuerliche Attentat vom 11. September 2001 auch zu sehen. Die Bilder von den Jets, die in die Twin Towers rasten und die Videos von den brennenden Türmen stehen uns lebhafter vor Augen als alle politischen Gewaltereignisse der letzten Jahrzehnte. Warum hat der gesamte Westen auf diese Aktion so ungeheuer schockiert reagiert? Da waren auf der einen Seite die vielen tausend Opfer, aber vor allem fühlte sich der Westen durch die Zerstörung der Türme ins Mark getroffen. Diese Gebäude waren Symbole der Macht und unseres Glaubens an das Gute dieser Macht.

In Ihrem Buch spannen Sie einen großen Bogen vom Attentat des Brutus an Caesar über die Neuzeit bis in die Gegenwart mit ihren Amokschützen und Selbstmordattentätern. Was verbindet diese einzelnen Taten, die ja sehr unterschiedliche Motive, sehr unterschiedliche Ziele hatten? Was ist das Ver­bindende?

Heute gehören Attentate, aus welchen Motiven sie auch begangen werden, zur Sprache der Politik. Sowohl die Selbstmordattentäter vom 11. September als auch die Schoolshooter unserer Tage handeln aus Hass auf politische wie staatliche Institutionen. Sie nehmen den Tod auf sich, um diesem Hass Ausdruck zu verleihen. Gewiss sind die geschichtlichen Situationen in der langen Historie dieser Taten unterschiedlich, nicht aber die Triebkräfte der Attentäter. Was diese Taten und Ereignisse weiter miteinander verbindet, ist die Vorstellung der Täter, dass sie in die Weltgeschichte hineinwirken. Historisch gesehen, musste hierzu die Idee der Weltgeschichte überhaupt erst einmal geboren worden sein. Vermutlich war Caesar der erste Politiker, der eine solche Idee von Weltgeschichte entwickelt hat und er wollte sich zu ihrem Herrn erheben. Die christliche Geschichtsphilosophie hat den Gedanken beigesteuert, dass jedes geschichtliche Ereignis von Gottes Hand gelenkt werde. Wer einen König tötet, kann daher auch in Gottes Namen handeln.

Sie sagen, dass Paranoia schließlich auch das Gegenüber des Attentäters prägt. Dem „Wahn der bewaffneten Hand“ entspräche ein „Wahn der Geheimdienste“. Was genau meinen Sie damit?

Geheimdienste sind der institutionelle Verdacht des Staates. Aber jeder von uns trägt den Verdacht auch im eigenen Kopf. Heute prüfen die Geheimdienste: Wie gefährlich sind die Muslime?

Das aber fragt der Wahn unserer Tage. Gegenwärtig erscheinen Serien von Büchern, die die Gefahr einer weltweiten muslimischen Verschwörung konstruieren: Die Terroranschläge auf die Eisenbahn in Madrid 2004 und auf die Londoner U-Bahn im Juli 2005, die Ermordung Theo van Goghs, das Attentat auf den Karikaturisten Kurt Westergaard fügen sich im Auge solcher Autoren zu einem weltumspannenden Netzwerk des islamischen Terrorismus. Längst haben sich einige politische Parteien und Regierungen in verschiedenen Ländern Europas diese Paranoia zu eigen gemacht. Es ist nicht zu leugnen, dass der Mörder von Theo van Gogh auch Paranoiker war – er glaubte an die geheime Macht der Juden in den Niederlanden. Aber der muslimfeindliche Politiker Geert Wilders, der die neue Regierung mitträgt, ist sein staatliches Spiegelbild.

Baudrillard sagte kurz nach dem 11. September: „Der Terrorismus hat kein Ziel und lässt sich nicht an seinen realen Folgen messen.“ Vielmehr riskiere er, durch zusätzliche Unordnung die Kontrolle des Staates zu verstärken, wie man es heutzutage überall in der Einführung neuer Sicherheitsmaß­nahmen erkennen könne. Wie beurteilen Sie diese Tendenz?

Die Erfahrung gibt Jean Baudrillard recht. Der organisierte Terrorismus gehört heute ebenso zur Politik wie der einzelne Attentäter. Die Gefahren werden durch geheimdienstliche Aufklärung und durch verschärfte Kontrollmaßnahmen reduziert. Beides werden wir einstweilen nicht mehr los. Umso mehr müssen wir die Paranoia, die auch Gefahrengespenster sieht, unter Kontrolle halten.

Manfred Schneider, Jahrgang 1944, lehrt „Neugermanistik, Ästhetik und Medien“ an der Ruhr-Universität Bochum. Mehrere seiner Arbeiten widmete er den Störern der modernen Gesellschaft

Das Attentat – Kritik der parano­ischen Vernunft, Manfred Schneider, Matthes&Seitz 2010, 668 S., 39,90 €

http://www.freitag.de/wochenthema/1047-die-paranoia-ist-eine-extremform-der-gewissheit

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