Nachruf auf die Normalität

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„Was bleibt? Was kommt? Was verschwindet für immer?“, unter diesem Motto beschreibt Gabor Steigart, Chefredakteur des «Handelsblattes», in seinem neuen Buch eine Welt im dramatischen Wandel. Eren Güvercin sprach mit ihm auf der Leipziger Buchmesse.

Herr Steingart, soeben ist Ihr neues Buch „Das Ende der Normalität“ erschienen. Wie Sie schreiben, ist dieses Buch ein „Nachruf auf unser Leben, wie es bisher war“. Nach der Katastrophe in Japan erhält Ihr Buch eine besondere Brisanz.  Was kann der Anker des übrig gebliebenen Individuums noch sein in einer Welt, die nach der Finanzkrise nun auch mit einer Atomkrise sich auseinandersetzen muss?

Gabor Steingart: Ich glaube, dass wir erstmal begreifen müssen, was da in Japan geschehen ist, und was dieses Ereignis mit uns macht. Wir haben es hier mit Ereignissen zu tun, in denen die Hyperkomplexität der modernen Welt auf uns zurück schlägt. Wir haben diese Ereignisse in gewisser Weise mit dem Wort ‚Restrisiko‘ mit einkalkuliert. Dasselbe haben wir in der Finanzkrise, wo wir das Wort ’systemische Risiken‘ dafür haben. Beide Risiken sind eingetreten. Das systemische Risiko eines Meltdown der Finanzindustrie ist eingetreten. Wir haben in Deutschland den Brand gelöscht mit dem Geld, das in etwa mit allen privaten Ersparnissen seit 1945 entspricht. Ein Geldbetrag, der für die Leute – wenn sie es denn wüssten – unfassbarer Geldbetrag, der an Bürgschaften und realen Geldern ausgegeben wurde. Und wir haben es jetzt mit einer reellen Kernschmelze zu tun, ja nicht nur in Japan sondern auch in unserer – wenn sie wollen – Spitzentechnologie. Sowohl unsere Bankenindustrie, als auch unsere fortschrittlichste Energieversorgung haben sich über Nacht unmöglich gemacht. Das müssen wir erst aufarbeiten, d.h. dass unser Fortschrittsbegriff und das Abstreifen unserer alten Normalität zu schnell gegangen ist. Wir wollten über uns hinaus fliegen. Das hat nicht funktioniert. Wir haben unser altes Bankensystem abgestreift, und wir haben unsere alte Energieversorgung dran gegeben, ohne eine neue in ausreichendem Maße zu haben. Das stürzt uns in große auch Verstehensprobleme.

Welche Rolle spielt das Internet an diesem Auflösen der gewohnten Selbstverständlichkeiten? Sie schreiben, dass man sich früher im Café getroffen hatte, während man sich heute eher bei Facebook „trifft“…

Gabor Steingart: Das ist sozusagen die harmlose Form, wo sich Normalität verändert, dass unser oder mein Begriff von Freundschaft von sich kennen nicht mehr der heutige ist. Ich glaube auch, dass der Begriff von Freundschaft seine Bedeutung verlieren wird oder eine andere bekommt. So wie der Begriff Normalität, wenn Dinge so flüchtig sind, sich dauernd verändern, dann kann man sie nicht mehr Normalität nennen. Ein Zustand, wenn ich abends ins Bett gehe, und am morgen ist alles anders, das ist nicht normal. Normalität gibt auch Stabilität. Freunde geben auch Stabilität. Wir können diese Begriffe weiter benutzen, aber wenn sie etwas ganz anderes meinen, tun wir uns keinen Gefallen. Deswegen müssen wir alle Worte uns nochmal angucken, ob sie überhaupt noch unsere Situation kennzeichnen.

Sie schreiben in Ihrem Buch: „Der produktive Kern des Landes, also jene Sphäre der Wertschöpfung, in der Wohlstand erzeugt wird, zieht sich zusammen, derweil die Kruste, da, wo die Kernenergie konsumiert wird, sich ausweitet.“ Was bleibt dem Menschen noch in dieser Lage, wenn auch die soziale Sicherheit verloren geht? Was hält eine solche Gesellschaft noch zusammen?

Gabor Steingart: Das Bild vom produktiven Kern und der Kernenergie ist anders gemeint als in Japan. Das meint, dass wir immer weniger Arbeiter haben werden, weil wir immer weniger Kinder haben werden. In meinem Geburtsjahrgang waren 1,1 Millionen Babys, und heute sind wir nur noch 500 000 Babys. Das hat Folgen. Der produktive Kern, also die Zahl der Menschen, die etwas schaffen können, wird sich entsprechend dieser Geburtenrate halbieren, und für viel mehr Rentner sorgen müssen als heute. Das heißt, die Normalität, dass auf dem Rentenbescheid steht, was sie und ich bekommen, das können sie vergessen. Dieser Rentenbescheid ist ein Stück Literatur, aber es ist keine Mitteilung von einer Behörde, auf das sie sich verlassen sollten. Das werden harte Zeiten, weil wir das erst verstehen müssen, und dann müssen wir daraus Schlussfolgerungen ziehen. Die Welt geht nicht unter, aber die Welt, wie wir sie kennen, verschwindet.

Eine ihrer Thesen ist, dass Deutschland seinen Wohlfahrtsstaat bald schon nicht mehr leisten könne. Wenn man sich aber die Sozialleistungsquote anschaue, schreibt die ZEIT, so könne man sowohl die These von dem immer mehr Ressourcen vereinnahmenden Sozialstaat als auch die These von einem radikalen Sozialabbau falsch sei.

Gabor Steingart: Ich habe mich gewundert, dass der Kollege von der ZEIT sich scheinbar gut auskennt, aber sein Thema nicht ganz verstanden hat. Die Sozialleistungsquote war ja demnach ganz klar gestiegen in all den Jahren mit kleinen Höhen und Tiefen, aber wir sind auf einem Pik der Sozialleistungsquote. Das ist nun meine Behauptung. Wir haben keinen Sozialabbau in den letzten Jahren erlebt, sondern wir haben eine Umverteilung von Sozialhilfeempfängern zum Elterngeld. Wir haben also ganz neue Töpfe aufgemacht.

Die Sozialstaatsquote ist historisch hoch in Deutschland, und der Autor hat in der ZEIT geschrieben, dass dies doch zeige, dass wir es uns leisten können. Ja, aber die wird doch finanziert dadurch, dass die Babyboomer heute arbeiten gehen. Und ich sage, wenn die Babyboomer nicht mehr arbeiten gehen, also wenn ich und mein starker Jahrgang im Ruhestand sind, dann ist das unhaltbar. Wir sollten uns jetzt darüber Gedanken machen, weil die heute 35jährigen die Sozialleistungen, die ihnen heute versprochen werden, nicht in Anspruch nehmen können. Seriöse Forscher wie Prof. Raffelhüschen haben ausgerechnet, dass ein heute 35jähriger bei der Rente draufzahlt und nichts herausbekommt. Das ist eine bittere Mitteilung. Das bedeutet im Klartext: Altersarmut, Unterversorgung von Sicherheit. Der Sozialstaat ist für die unter 50jährigen ein Totalausfall bei der Rente, weil sie eher eine Steuer zahlen. Wenn sie einzahlen aber nichts herausbekommen, wird die Rente zu einer Steuer. Es ist nicht mehr eine Einzahlung in einem Vermögensaufbau. Wir sind mit dem Satz aufgewachsen, dass Rente der Lohn für Lebensleistung sei. Das wird sie nicht mehr sein. Deswegen ist die Sozialstaatsquote, die wir uns heute noch leisten vielleicht leisten können, mit viel Verschuldung, so nicht haltbar sein können, und wird abgeschmolzen werden. Das ist eben nicht neoliberal, das ist fürsorglich es den Jüngeren heute zu sagen.

Trotz dieser für viele harten Analyse sprechen Sie in Ihrem Buch nicht von einem Ende der Welt, sondern nur von einem „Ende der Welt, wie wir sie kennen“. Wie setzen sie aber die wachsende Individualisierung und Atomisierung des Menschen in Relation zu seinen politischen Möglichkeiten? Hat der Mensch als Individuum überhaupt noch die Kraft, gegen den unheimlichen Sog der Globalisierung irgendeinen Widerstand zu leisten?

Gabor Steingart: Na ja, die Globalisierung und ihr Sog geht ja auch von uns selber aus. Ich beschreibe das am Beispiel des Kunden. Der Kunde, der das Internet für sich nutzt, um den besten Deal des Tages raus zu holen, ist schon Teil der Globalisierung. Was die Globalisierung antreibt, ist nicht mehr wie vor zwanzig Jahren nur alleine Coca Cola, Deutsche Bank und Microsoft, es sind schon wir, die Coca Cola, Deutsche Bank und Microsoft sogar unheimlich in Bedrängnis bringen. Ich in meine eigenen Industrie, im Mediengeschäft sehe, wir das Internet uns in Bedrängnis bringt. Leser wollen alles umsonst lesen. Das drückt die Löhne, die Sozialstandards, aber auch die Seriosität, wenn Redaktionen zu sehr abgeschmolzen werden. Der Kunde, also wir sind ein brutales, man kann auch sagen neoliberales Wesen. Insofern sind wir das Problem, aber vielleicht auch die Lösung. Ein Kunde, genauso wie ein Wähler, ein Bürger, dem die Kraft bewusst ist, die von ihm und allen anderen ausgeht, kann auch etwas bewirken.

Herr Steingart, vielen Dank für das Gespräch.

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