Der Sieg von Imamoglu bei der Wahl in Istanbul war für viele Beobachter nicht wirklich überraschend. Viele hatten darüber gerätselt, wieso es Erdogan darauf ankommen lässt, ein zweites Mal die Wahlen in Istanbul zu verlieren. Man kennt ihn eigentlich als einen Politiker, der aus Wahldämpfern immer die richtigen Lehren zielt und stärker zurückkommt. Aber zum ersten Mal in seiner politischen Karriere hat er einen fatalen Fehler gemacht. Er hat Druck auf den Hohen Wahlrat gemacht, um den ersten Wahlsieg des CHP Kandidaten Imamoglu annulieren zu lassen. Einen Grund für diese Annullierung gab es nicht.
Was nach der Annullierung geschah, hat der CHP in die Karten gespielt, denn Erdogan und die von der AKP gleichgeschalteten Medien führten einen beispiellosen populistischen Wahlkampf gegen Imamoglu. Jedes Mittel war recht, um seine Wahl zum Bürgermeister der wichtigsten Wirtschaftsmetropole des Landes zu verhindern. Was wurde gegen ihn nicht ins Feld geführt? Mal war er ein verkappter Pontus-Grieche, weil seine Familie aus Trabzon am Schwarzen Meer stammte, und mal war er das Projekt dunkler ausländischer Mächte und Terrororganisationen, die aus Istanbul wieder Konstantinopel machen wollten. Man hat in bisher nie dagewesenem Ausmaße die Religion ins Spiel geführt. Gerade die Religionsbehörde Diyanet hat sich bereitwillig für die Instrumentalisierung der Religion zur Verfügung gestellt, Hunderttausende Menschen wurden zu einem Massengebet in freier Luft mobilisiert, die Erdogan auf skrupellose Art und Weise für seine Wahlpropaganda ausnutzte. Ein Sufi-Gelehrter, dessen Schwiegersohn zufälligerweise Aufträge in Millionenhöhe von der Stadt Istanbul zugeschoben bekam, erklärte wenige Tage vor der gestrigen Wahl die Wahlstimmen gegen den Kandidaten der AKP kurzerhand für haram, also religiös nicht erlaubt.
Diese hasserfüllte und verzweifelte Wahlpropaganda der AKP machte deutlich, wie aussichtslos die Lage war. Und das Ergebnis hat diese Vermutung bestätigt. In der ersten Wahl betrug der Vorsprung von Imamoglu knappe 20.000 Stimmen, während sie jetzt auf über 800.000 Stimmen angestiegen ist. Erdogan und der AKP blieb nichts anderes übrig, als das Ergebnis zähneknirschend zu akzeptieren. Selbst in Stadteilen wie Eyüp, Fatih und Üsküdar, in denen insbesondere die religiöse Bevölkerung lebt, erlitt die AKP eine herbe Niederlage. Imamoglu hat mit seiner für die CHP untypischen Politik auch diese Gesellschaftsschichten erreicht und für sich gewinnen können. Denn gerade auch im religiösen Teil der Bevölkerung wächst die Unmut gegenüber der AKP und Erdogan, weil sie für sich ein Monopol auf die Religion beanspruchen und diese massiv für ihre politische Agenda missbrauchen.
Die Menschen in Istanbul haben der Vetterwirtschaft, der AKP-Oligarchie, ihren Hofberichterstattern in den gleichgeschalteten Medien, die sich Journalisten nennen, der identitären Allianz zwischen der AKP und MHP und Erdogans Populismus, der jeden Andersdenkenden dämonisiert hat, einen Denkzettel verpasst. Aber was bedeutet dieses Ergebnis für die Zukunft des Landes?
Istanbul ist nicht irgendeine Stadt in der Türkei. Diese Metropole ist für die türkische Wirtschaft von zentraler Bedeutung. Und natürlich gibt es einflussreiche Unternehmen und Konzerne, die einen Stück von diesem Kuchen haben wollen. Die AKP hat die Finanzkraft ihrer Oligarchie vor allem Istanbul zu verdanken. Man hat über 20 Jahre lang die lukrativen Ausschreibungen parteinahen Unternehmen und Konzernen zugeschoben, und so eine neue loyale Oligarchie geschaffen. Durch diese massive Anhäufung von Ressourcen und Finanzmitteln konnten große Medienhäuser und Fernsehsender aufgekauft werden, so dass die AKP mittlerweile etwa 90 Prozent der Medienlandschaft kontrolliert. Eine große Herausforderung für Erdogan wird es sein, wie lange er noch diese Oligarchie bei Laune halten kann. Und vor allem: welche dreckige Wäsche wird jetzt, nachdem Imamoglu das Amt des Bürgermeister endgültig bekommen wird, zum Vorschein kommen?
In den Reihen der AKP knirscht es schon seit einiger Zeit. Viele prägende Figuren der ersten Regierungsjahre der AKP wurden Stück für Stück von Erdogan aussortiert und sind aus der Bildfläche verschwunden. Auch innerhalb der aktuellen AKP gibt es viel Unzufriedenheit über die Entwicklung der Partei in den letzten Jahren. Die herbe Niederlage in Istanbul wird daher schwerwiegende Folgen für die Partei haben. Die AKP ist längst keine Partei mehr, in der über politische Inhalte diskutiert wird. Erdogan ist die einzige Person, der die Richtung und die Inhalte vorgibt, der Rest hat blind zu folgen. Dadurch hat die Partei, die in ihren Anfangsjahren noch für eine dynamische und flexible Politik stand, sehr viel an Strahlkraft verloren. Der ursprüngliche Ansatz der AKP, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen miteinander zu versöhnen, ist längst ersetzt worden von einer Politik, die nur noch davon lebt, andere zu verteufeln und zu dämonisieren. Dafür ist ihnen jedes Mittel recht.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass die ehemaligen hochrangigen AKP-Politiker Davutoglu und Babacan nur auf dieses Ergebnis in Istanbul gewartet haben, um ihr Projekt einer neuen Partei zu starten. Es wird nicht lange dauern, bis diese beiden neuen Parteien gegründet werden. Während Davutoglu das Ziel verfolgt, eine Partei zu gründen, die vor allem das konservative Wählerklientel anspricht, hört man hinter den Kulissen, dass der ehemalige AKP-Minister Ali Babacan ebenfalls eine neue Partei gründen will, die aber eher die Mitte der Gesellschaft ansprechen will. Unabhängig von der Frage, wie erfolgreich diese beiden Neugründungen am Ende werden können, werden beide ehemalige Führungsfiguren der AKP in ihrer ehemaligen Partei für Unruhe sorgen. Es ist damit zu rechnen, dass sich die ersten Abgeordneten der AKP schon in Stellung bringen, um in eine dieser neuen Partei einzutreten.
Eine mindestens genauso spannende Frage ist, wie die CHP sich künftig verorten wird. Denn Imamoglu hat einen für die CHP sehr untypischen Wahlkampf geführt. Er hat – anders als so oft in der Vergangenheit seiner Partei – auch offensiv die religiösen Menschen in seinen Reden angesprochen und erfolgreich um ihre Gunst geworben. Das ist in gewisser Weise ein Novum für die CHP. Natürlich verleiht dieser Sieg in Istanbul Imamoglu enormen Rückenwind. Anders als der bisherige Parteivorsitzende Kilicdaroglu ist Imamoglu jung, dynamisch und steht für eine neue Politik. Und vor allem ist er in der Lage ganz unterschiedliche Wählergruppen anzusprechen. Es kann sehr gut sein, dass die Wahl von Imamoglu zum Bürgermeister auch innerhalb der CHP zu einem Wandel führt. Wenn er in der ersten Zeit seines Amtes in Istanbul eine erfolgreiche Arbeit hinlegt, ist es nicht allzu unwahrscheinlich, dass er sich auch als künftiger Parteivorsitzender und somit auch Kandidat für die nächste Präsidentschaftswahl in Stellung bringen kann. Allerdings gibt es in der CHP auch die alten Parteikader, die für eine andere, repressive Politik stehen, eine Politik, die zumindest gegenüber dem religiösen Teil der Bevölkerung starke Vorbehalte hat. Imamoglu kann für die CHP somit eine einzigartige Chance sein, sich einem Wandel zu unterziehen, um sich auch für andere Wählergruppen zu öffnen.
Die Wahlen in Istanbul werden die Parteienlandschaft verändern. Neue Akteure werden entstehen, und bestehende Parteien werden sich wandeln müssen, wenn sie noch eine Zukunft haben wollen. Das ist eine einmalige Gelegenheit, die in den letzten Jahren größer gewordenen Gräben zu überwinden. Die Istanbuler haben mit dieser Wahl ein klares Signal gesendet: Sie haben die Verteufelung des Anderen satt. Die Verschwörungstheorien, mit denen die Bevölkerung in den Medien berieselt werden, wirken nicht mehr. Es bleibt abzuwarten, wie sich das Ganze in den nächsten Monaten und Jahren weiterentwickeln wird. Es bleibt zu hoffen, dass – getreu dem Wahlslogan von Imamoglu – alles gut wird!