Die Nestbeschmutzer – Die eigene Meinung vertreten, auch wenn das andere triggern könnte – In der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung „Der Freitag“ kommen sechs Menschen zu Wort, die dem sozialen Druck trotzen

Du bist ein Agent, ein Verräter. Was ist deine wirkliche Absicht? Du sprichst mit der Zunge des Deutschen, des Feindes! Du bist ein Haustürke und bückst dich vor deinen neuen Herren! Oder: Du hast verdorbenes Blut! Du bist der angeleinte Hund der Zionisten!
Das sind so Zuschriften, die man als Muslim aus der türkisch-muslimischen Community bekommt, wenn man öffentlich auf problematische Einstellungen und Strukturen in der muslimischen Community hinweist. Denn als Muslim soll man nicht auf antisemitische, kurden- und armenier- und ezidenfeindliche Einstellungen und Aussagen in der Community hinweisen. Man soll die aggressive nationalistisch-identitäre Ideologie unter den Türkeistämmigen in Deutschland beschweigen. Man soll die Auswirkungen der Entwicklungen in der Türkei, die über die Diasporaarbeit und die staatlich gelenkten türkischen Medien und Institutionen in die Community in Deutschland hineinwirken, gefälligst nicht sichtbar machen. Was man soll: Den Rassismus und die antimuslimischen Ressentiments „der“ Deutschen anprangern.
Auch ich habe lange Zeit aus Naivität, aus einer falschen Hoffnung und aus einer falsch verstandenen Solidarität heraus gedacht, dass man Probleme aus Rücksicht auf die immer weiter zunehmenden antimuslimischen Ressentiments nur im innermuslimischen Kontext thematisieren sollte. Bis ich realisiert habe, dass die Strukturen und die Denkverbote in der Community im innermuslimischen Kontext gar keinen Raum für einen selbstkritischen Diskurs lassen. Weite Teile der Community reagieren rabiat auf Selbstkritik. Auch in Teilen der linken Antirassismus-Bubble ist wenig Verständnis für diese Themen spürbar. Wer sie anspricht, muss mit dem Vorwurf rechnen, man bediene damit einen rechtspopulistischen und rassistischen Diskurs. Und ja, es gibt muslimische Akteure, die sich zwar im deutschen Kontext als antirassistische Aktivisten inszenieren, aber schweigen, wenn es um türkische Rassisten der Grauen Wölfe in Deutschland geht, oder die ironischerweise auch kein Problem haben, mit der AKP-Schickeria bestens vernetzt zu sein.
Genauso wie es wichtig ist, sich von der AfD und anderen rechten Kreisen nicht einschüchtern zu lassen, wenn es um die offene Thematisierung von Rassismus, Diskriminierung, Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit und antimuslimischen Ressentiments geht, so ist es auch wichtig, nicht zu schweigen, wenn es um islamistische Haltungen, einen muslimischen Antisemitismus und nationalistisch-identitäre Ideologien unter Türkeistämmigen in Deutschland geht. Die Aufrichtigkeit bleibt auf der Strecke, wenn man sich bewusst oder unbewusst zensieren lässt.
Die Markierung von kritischen muslimischen Stimmen als Nestbeschmutzer verfolgt zwei Ziele. Einerseits sollen diese Stimmen communityintern zur Persona non grata erklärt werden. Die Kontaktschuldtheorie, über die sich die muslimischen Verbände oft beklagen, wenn der Vorwurf kommt, sie hätten eine Nähe zur Muslimbruderschaft oder zum AKP-Regime, wenden sie selbst innerhalb der eigenen Community an. Jeder aus dem eigenen Verband, der die kritischen Wortbeiträge der ‚Nestbeschmutzer‘ in den sozialen Medien teilt oder liked; jeder, der die Kritik aufgreift und die Funktionäre dieser Verbände damit konfrontiert, wird unter Druck gesetzt und zur Räson gerufen.
Der mündige Bürger mit eigenen Gedanken, Haltungen und Visionen ist hier nicht gefragt. Alles ist dem Zweck der Kontrolle unterworfen. Die muslimischen Verbandsstrukturen mögen nach außen zwar semi-professionell und dilettantisch anmuten, aber wenn etwas funktioniert, dann ist es der Machtinstinkt und die Machtsicherung. Jede noch so kleine Kritik wird im Keim erstickt. Wer sich dem nicht fügt, wird als illoyal beschuldigt. Daraus spricht ein schwaches Demokratieverständnis: Kritik und Widerspruch wird immer als Dienst für den Gegner wahrgenommen. Eine kontroverse Haltung aus eigener Überzeugung, aus eigener Reflexion wird gar nicht für möglich gehalten. Der Gegner ist übermächtig: Die Gesellschaft, die Politik, die Medien, die Juden. Wegen dieses Gegners darf nie ein Fehler öffentlich diskutiert werden, denn es könnte ihm dienen. Das ist der andere Grund der Markierung als Nestbeschmutzer. Solange die Kritik nur von der gegnerischen Seite kommt, ist ja alles in Ordnung. Man fühlt sich gar nicht getroffen, denn sie bestätigen die eigene identitäre Haltung und Wagenburg-Mentalität.
Aber es gibt Hoffnung. Dieser Mangel an innermuslimischer Kontroverse, dieser Mangel an inhaltlichen Diskursen auf Augenhöhe und der Mangel an einer Auseinandersetzung mit anderen Meinungen führt besonders jungen Muslimen immer klarer vor Augen, dass es ein Umdenken in der deutsch-muslimischen Community braucht.
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