Renan Demirkan

Bindungslosigkeit ist die Hauptpropaganda in der globalisierten Welt“

Frau Demirkan, in Ihrem Buch „Septembertee oder das geliehene Leben“ schreiben Sie auf eine sehr persönliche Art über Ihre verstorbene Mutter, über die Einwanderergeneration Ihrer Eltern. Wie haben Ihre Eltern Sie geprägt?

Renan Demirkan: Ich bin zwischen Kant und dem Koran groß geworden. Eine bessere Prägung kann ich mir nicht vorstellen, zwischen der ‚reinen Vernunft‘ und der ‚großen Liebe der Religion‘. Es ist schwer so eine Prägung selbst zu bewerten oder zu beschreiben. Ich habe viel Konfliktstoff gehabt in meiner Familie, unser Leben ist nicht reibungslos verlaufen. Aber heute als altes Kind gewissermaßen bin ich dankbar für diese Reibungen. Sie haben mich näher ans Leben gebracht, und auch gelehrt Lebensfragen zu stellen. Meine Eltern haben mich gelehrt zu Überleben.

Demirkan: "'Intergration' suggeriert und behandelt diejenigen, die zu uns kommen, wie kulturlose Parier. Das sind sie aber nicht!"

Demirkan: "'Intergration' suggeriert und behandelt diejenigen, die zu uns kommen, wie kulturlose Parier. Das sind sie aber nicht!"

Sie schreiben an einer Stelle: Wer seine Mutter verliert, verliert eine ganze Welt. War Ihre Mutter für Sie ein Fenster in eine ganz andere Welt?

Renan Demirkan: Sie war mein Archiv, sie war meine abrufbare Geschichte, mein Kopfkissen, meine Bettdecke, mein Haltegriff, mein Brot, meine Sprache, alles das, was Eltern sind, was insbesondere eine Mutter ist. Es ist nun mal so, dass die Frau die Aufgabe hat, nach wie vor bis in die heutige Zeit hinein, für das Soziale im Haus, für die Erziehung, das Weitergeben von Liebe, den Tugenden und den Gebräuchen und Sitten zuständig zu sein. Dafür war meine Mutter auch zuständig. Obwohl sie sehr früh eine berufstätige Frau war. War sie der Nabel unserer kleinen Welt. Sie war diejenige, die die Geschichte wach gehalten hat durch die Fotoalben, die uns daran erinnert hat, woher wir kommen. Meine Mutter war nicht nur Fenster, meine Mutter war wirklich meine Welt. Ich habe durch sie gesehen, und durch sie geatmet. Und ich konnte durch sie, immer wieder und wieder, zurück in eine Kindheit. Das geht jetzt nicht mehr.

Über die Frauen der ersten Einwanderergeneration gibt es sehr verbreitete Klischees, dass sie z.B. ungebildet und primitiv seien.

Renan Demirkan: Es war mir besonders wichtig gerade die Absurdität dieses Klischees aufzuzeigen – deswegen habe ich versucht in diesem Buch drei Stränge, so konsequent wie ich es nur irgend kann, zu verfolgen – so persönlich wie möglich zu schreiben, so literarisch wie möglich zu verdichten und so politisch wie es nur möglich ist, um diese Geschichte der Migration zu beschreiben.

Ganz sicher gehört meine Mutter zu dieser großen Gruppe der Menschen, die man landläufig ganz gerne als ungebildet abtut. Ich versichere ihnen und dem Rest der Welt, dass meine Mutter, selbst wenn sie das enzyklopädische Alphabet nicht so gut kannte, eine Meisterin des Lebensalphabets war. Meine Mutter erspürte das Leben besser als jeder Wissenschaftler es zu analysieren vermag. Eine Unbelesene, die wesentlich wissender war über die Dinge des Alltags, als ein Belesener es jemals sein wird. Wenn es mir gelingt zu beschreiben, wenn es mir gelingt Verständnis für diese Menschen zu erwecken, dass ihr Nichtkönnen nicht ein unverschuldetes Nichtwollen ist und keine Ablehnung oder Ignoranz, wenn ich das schaffe zu erklären anhand dieser wunderbaren Figur Semiha, die meine Mutter war, dann hat sich die enorm schwere Arbeit an diesem Buch zehnmal gelohnt. Diese Leute, die hierher kommen, laufen wirklich mit offenen Augen und Armen in dieser Gesellschaft herum. Auch wenn sie nicht vieles begreifen, so stellen sie doch Fragen. Auch wenn sie nicht alle Antworten verstehen, so bleiben sie da und suchen weiter. Sie werden nur nicht so sichtbar wie all die, die hier laut von sich reden, weil es nicht ihre Kultur ist und sie haben es nie gelernt sich sichtbar zu machen.

Den Kindern dieser Generation bleibt das Migrantenimage oft haften. Hatten Sie einen „Identitätskonflikt“, wie es oft dieser zweiten oder dritten Generation nachgesagt wird?

Renan Demirkan: Natürlich habe ich den auch gehabt, und ich werde es wahrscheinlich auch bis ans Ende meiner Tage haben. Wer das nicht hat, dann stimmt da auch etwas mit ihm nicht. Wenn wir uns nicht täglich überprüfen, wer wir sind und wohin wir wollen, dann stimmt etwas mit unserer Wahrnehmung nicht. Wenn wir derselbe sind, wie wir vor zwei Jahren waren, dann frage ich mich, was hast du in den zwei Jahren gemacht, welche Menschen bist du begegnet, hast du nichts von denen gelernt? Hast du keine Schmerzen empfunden? Bist du nicht traurig gewesen? Wir verändern uns ja permanent und stehen immer wieder vor diesen sehr identitätsprägenden, täglich identitätsstiftenden Fragen, so dass wir ständig von Identitätskrisen erschüttert werden. Jeder Liebeskummer ist eine Identitätskrise, jede Trennung ist eine Identitätskrise. Und ich kann ihnen als Mutter sagen, dass jede Veränderung des Kindes eine Identitätskrise für die Mutter ist.

Ich weiß aber, worauf sie hinauswollen, und ich will ihnen die Frage der transkulturellen Identitätsfindung auch gerne beantworten, aber mir war es wichtig einfach nur zu beschreiben, dass Identität nicht nur ein Anspruch einer Mehrheitsgesellschaft oder einer Migrantengruppierung ist, sondern dass deren ‚Krisen‘ ein notwendiges menschliches Prinzip der Anpassung und des Überlebens ist. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen einer orientalischen Kultur und einer westeuropäischen Kultur. Und der größte Unterschied ist,dass wir hier eine Gesellschaft haben, und im Orient eine Gemeinschaft. Dass der Orient in einem „Wir“ groß wird, und dass der Okzident in einem „Ich“ groß wird. Und wer damit kein Problem hat, hat weder das Eine noch das Andere überhaupt je begriffen oder gelebt. Da sind die Konflikte schon zwangsläufig vorprogrammiert. Vielleicht nicht so sehr für unsere Eltern, weil sie länger in dem „Wir“ gelebt haben. Es war leichter an dem „Wir“ festzuhalten. Wir Kinder kriegen das ja nur kolportiert mit und müssen uns irgendwie mit einer „Ich“-Gesellschaft, dem sehr stark ausgeprägten Individualismus arrangieren. Das fällt nicht leicht. Ich sah damals voller Bewunderung und Sehnsucht auf all die souveränen Ichs ‚draußen‘ und fühlte mich wie in Sippenhaft. und bin ja dann auch tatsächlich mit 18 Jahren in eine WG geflüchtet. Aber ich landete im Auge des Orkans und wirbelte noch sehr lange Zeit wie ein Flusen im Wind durch sämtliche Identitätsfragen. Erst Jahrzehnte später habe ich begriffen, was da mit uns Kindern passiert. Viel schlimmer ist, was ich jetzt empfinde, was nach diesem Buch mit mir geschehen ist. Ich habe es erst jetzt so richtig mit jeder Faser meines Seins begriffen, dass mein Glück in diesem Land großgeworden zu sein auf dem Unglück meiner Eltern fußt. Das ist so als hätte man sein Traumhaus auf Treibsand gebaut. Und immer wenn ich daran denke, tut es mir richtig körperlich weh. Ich hatte Glück hier groß geworden zu sein. Ich habe nie gehungert, habe nie gefroren. Ich hatte die bestmögliche Ausbildung. Ich wurde gehört, und ich wurde auch gesehen, ich werde gefragt. Ich habe ein gesundes Kind zur Welt gebracht. Aber es ist passiert auf der Not und auf dem Unglück meiner Eltern.

"Rituale sind besonders dann wichtig, wenn in der globalisierten Welt Bindungslosigkeit zur Hauptpropaganda wird."

"Rituale sind besonders dann wichtig, wenn in der globalisierten Welt Bindungslosigkeit zur Hauptpropaganda wird."

Sie äußern sich auch oft über politische Themen. Ein Thema, über was in Deutschland viel debattiert wird, ist die Integration der hier lebenden Türken. Wie beurteilen Sie die Lage der hier lebenden Türken?

Renan Demirkan: Die Integration hat nie funktioniert, und sie wird auch nie funktionieren. Aber die Politik hält trotzdem daran fest. Der Begriff der Integration – es ist keine Erfindung von mir, sondern steht in jedem deutschen Duden drin – heißt sich Unterordnen unter das Ganze bei Aufgabe des Eigenen. Integration geht per se, per Definition von der Ungleichheit des Gegenübers aus. Wie kann etwas, was von der Ungleichheit des Anderen ausgeht, und im Wortkern eine Deutungshierarchie, eine Deutungshoheit von Kultur manifestiert, wie kann so etwas von gleichrangiger Mitbürgerlichkeit reden, vom gesellschaftlichen Miteinander. Das geht gar nicht! ‚Intergration‘ suggeriert und behandelt diejenigen, die zu uns kommen, wie kulturlose Parier. Das sind sie aber nicht! Sie sind eigenständige Kulturwesen. ‚Integration‘ aber ignoriert das. Der Begriff, der Gedanke, die Politik der Integration ignoriert den, der kommt in seiner ursprünglichen kulturellen Identität. Integration hat nie funktioniert, weil es das falsche Instrument des Miteinanders ist. Es geht von der Ungleichheit des Gegenübers aus, und ist permanente Demütigung.

Sie sind eine bekannte Schauspielerin und Autorin, und wurden auch mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Wieso haben Sie immer noch nicht einen deutschen Pass?

Renan Demirkan: Ich habe ihn, aber doppelt! (lacht) Ich habe 15 Jahre lang Briefe geschrieben, habe diskutiert, und irgendwann hatte vielleicht die NRW-Regierung die Nase voll (lacht), und dann – 2002- hat mir der damalige Ministerpräsident von NRW Wolfgang Clement gesagt, ich habe es unterzeichnet. Ich habe eine doppelte Staatsbürgerschaft, weil ich dieses ‚entweder oder’ bis zum heutigen Tag nicht akzeptieren will und kann. Durch diesen symbolischen Akt ist zumindest die SPD soweit, dass sie sagen kann, ja wir respektieren das, wer diese neuen Menschen sind und was sie uns mitbringen. Dass die von der CDU/CSU noch lange nicht soweit sind, zeugt von ihrer Art des globalen Denkens: Es ist nur beschränkt auf Ihresgleichen und nicht transkulturell.

Sie haben in der Vergangenheit auch die Verhältnisse in der Türkei kritisiert, etwa bei der Kurdenproblematik. Wie bewerten Sie die jüngsten Entwicklungen in der Türkei?

Renan Demirkan: Ich war gerade Ende Mai für ein paar Tage in Ankara und hatte das Gefühl, so paradox es klingen mag bei der bekennend religösen Regierung, dass die Türkei heute eine großzügigere ist, als die Türkei vor 15, 20 Jahren. Kann sein, dass es mit dem Druck der europäischen Zugehörigkeit gekommen ist, ist mir aber egal. Es gibt eine größere Offenheit und Großzügigkeit. Das spürt man und das gefällt mir an der heutigen Türkei. Für mich war und ist Religion nie per se etwas Bedrohliches gewesen. Aber sie wird es- wenn sie instumentalsiert wird. Siehe Iran. Aber in der Türkei kann das nicht passieren- begründet durch ihre geostrategischen Verpflichtung. Die Nato würde das nie zulassen. Aber der Zulauf in die Religionen hat ja Gründe. Einerseits ist Religion, wie jede andere Form von Übung – ein legitimes Mitel in der Selbstübung und Selbstfindung. Überdies braucht der Mensch Spiritualität und Rituale – sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Übungsräume. Und wenn die Menschen mit Bildung – Kunst und Kreativität unterversorgt sind – so kann die Religion auch ein kreativer Impulsgeber sein- so war es jedenfalls bei meiner religiösen Mutter. Rituale sind besonders dann wichtig, wenn in der globalisierten Welt Bindungslosigkeit zur Hauptpropaganda wird. Flexibel sein ums verrecken, damit du ja immer abrufbar bist. Und schon ist die Kernschmelze des Humanismus in vollem Gange: Verlust von Solidarität – Loyalität – Fürsorge – Mitgefühl und Verantwortung – von Kontinuität und Respekt!

Frau Demirkan, vielen Dank für dieses Gespräch.

1 Kommentar

  1. Nesrin Cipa says

    Selam,

    ich stimme dem, was Frau Demirka in ihrem Artikel sagt, zum groessten Teil zu!
    Der Artikel gefaellt mir!!
    Lieben Gruss,
    Nesrin

    • Hallo,

      ich hätte es nicht anders geschrieben als Frau Demirkan. Ich finde sie hat es auf den Punkt gebracht. Allerdings, kann ich im letzten Abschnitt dem
      “ Aber der Zulauf in die Religionen hat ja Gründe usw. “
      nicht mehr folgen. Ich weiß nicht, was sie damit sagen möchte.

      Schöne Grüße

      Fatma

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