Die Flucht in die beliebigen Werte

comments 7
Uncategorized

Die Debatten um Werte haben seit einigen Jahren Hochkonjunktur. Eberhard Straub misstraut der Werte-Inflation in seinem neuen Buch „Zur Tyrannei der Werte“, denn hinter jedem sogenannten Wert stehe ein Interessent mit seinen eigenwilligen Absichten und Zwecken, der, getreu seinem ökonomischen Urbild, danach strebe, seinem Moralprodukt eine beherrschende Stellung auf dem Markt der Meinungen zu verschaffen. Eren Güvercin sprach mit Eberhard Straub über die europäischen Werte, die vermeintliche Werteordnung unserer Verfassung und die Rolle der Muslime in dem Kampf um die Werte.

Eberhard Straub: "Die westliche Polemik gegen den Islam ist eine Polemik gegen Religion überhaupt."

Eberhard Straub: "Die westliche Polemik gegen den Islam ist eine Polemik gegen Religion überhaupt."

Die Europäische Union oder die auch die NATO bezeichnen sich selber als Wertegemeinschaften. Im Lissaboner Vertrag heißt es, die europäischen Werte würden das christliche Abendland ausmachen, die griechische Philosophie oder die Aufklärung. Wenn zum Beispiel die Europäische Gemeinschaft sagt, sie sei eine Wertegemeinschaft – warum ärgert Sie das?

Eberhard Straub: Ich störe mich deswegen daran, weil dieser Begriff Wert aus der Ökonomie kommt. Der Wert gehört schlicht und einfach zur kapitalistischen Wirtschaft. Der Begriff Wert kommt nur ganz gelegentlich im 17. oder 18. Jahrhundert vor. Insgesamt kommt die Inflation der Wertbegriffe erst mit dem Kapitalismus. Das christliche Abendland, die griechische Philosophie und die Aufklärung sind im Grunde genommen Redensarten – kein Mensch weiß heute noch, was überhaupt das Christentum ist in einem sich entchristlichenden Europa.

In der letzten Zeit wird auch oft von der „jüdisch-christlichen Tradition“ Europas geredet, gerade wenn es um die Integration der Muslime in Europa geht…

Eberhard Straub: Das ist auch wieder eine verlegene Redensart, die jetzt in Deutschland aufgekommen ist. Selbstverständlich gehört das Alte Testament zur christlichen Religion dazu. Wer sich dagegen wehrt und behauptet, dass das Judentum und das Alte Testament angeblich nichts mit dem Christentum zu tun hat, ist nach der katholischen Lehre zumindest seit dem 3. Jahrhundert ein Häretiker. Aber das, was die Christen unter dem Judentum verstehen, ist eine christliche Interpretation des Alten Testaments, die auf den kommenden Messias Jesus Christus hindeutet. Dagegen wehren sich die Juden zu Recht. Insofern gibt es natürlich immer große Differenzen, wie Juden und Christen das Alte Testament auffassen.

Es wird viel über die Aufklärung geredet, aber wenn man sich die wundersame Geldvermehrung des Kapitalismus und ihre Logik der ewigen Verschuldung anschaut, hat sich das ökonomische Feld jedoch erfolgreich der Aufklärung und der Vernunft entzogen.

Eberhard Straub: Das wirtschaftliche Leben ist ja – im Gegensatz zu dem, was die Nationalökonomen behaupten – ein durch und durch irrationales Gebiet. Ein Ökonom weiß doch gar nicht, was in der nächsten Zukunft passieren wird. Die Ökonomen sind genauso überrascht von der im Grunde kaum zu beherrschenden Finanzkrise wie alle übrigen Menschen. Auch das gehört zu diesen Redensarten in Europa, dass die Ökonomie etwas Rationales sei oder mit der Aufklärung etwas zu tun hätte. Die Ökonomie folgt den subjektiven Bedürfnissen, was der Konsument erwartet, was er sich wünscht, oder wozu er überredet wird. Das sind eigentlich psychologische Dinge, die im Grunde nichts mit der klaren Vernunft zu tun haben.

Ist das Gerede über Werte also ein Ersatz für etwas anderes?

Eberhard Straub: Ja, ich sage, dass die Werte seit dem 19. Jahrhundert ein Ersatz sein sollen. Nietzsche fing ja mit der „Umwertung aller Werte“ damit an. Die Werte dienten als ein Ersatz dafür, was man früher Metaphysik oder Religion nannte. Im 19. Jahrhundert hat sich all das als historisch erwiesen, was wir bislang als ewige Grundüberzeugungen, als Tugenden, als Idee wie bei Platon uns vorgestellt haben. Wir stellten fest, dass alles zeitbedingt ist, dass es in der Geschichte ein Auf und Ab gibt, und da sollten nun plötzlich die Werte ein Ersatz sein für alles das, was uns verloren gegangen ist, damit die Leute im Pluralismus einen Halt finden.

Sie schreiben, dass die Werte sich erst im Zeitalter des Kapitalismus entwickelt haben. Was haben Werte konkret mit dem Kapitalismus zu tun?

Eberhard Straub: Werte haben etwas mit Kapitalismus zu tun, weil wir auch von einer Umwertung, Aufwertung oder Abwertung sprechen, wenn es um Geld geht. Entsprechend können wir auf dem Markt Produkte abwerten, die überholt sind. Daher kommt die Tyrannei der Werte. Das neue Produkt soll das bessere, aufregendere Produkt sein, das das andere ersetzt. Insofern wird die ständige Konkurrenz des Marktes in die Konstruktion des Wertesystems hineingezogen. Hinter den Werten steht immer irgend jemand, der diesen Werten Geltung verschaffen will, und zwar eine Höchstgeltung. Der Philosoph Nicolai Hartmann hat schon in den 20er Jahren erläutert, dass der höhere Wert den niederen Wert verdrängt. So gibt es immer einen Kampf der Werte um ihr Dasein, um sich dann als wichtigster oder höchster Wert durchzusetzen.

Sie begegnen auch mit Skepsis, dass die Verfassung zu einer Werteordnung stilisiert wird. Denn in dem Moment, wo Rechte zu Werten werden, würden sie nicht sicherer, sondern sie kämen in den ganzen Prozess der Wertediskussion hinein, und dann würde der Rechtsstaat unsicherer.

Eberhard Straub: Der Höchstwert ist im Augenblick die Sicherheit. Und der Sicherheit zuliebe wird alles untergeordnet und geopfert. Es werden jetzt auf einmal rechtsstaatliche Freiheiten, die wir seit dem 19. Jahrhundert haben, durchbrochen. Das sind alles gefährliche Tendenzen, die eigentlich den liberalen Rechtsstaat, den wir aus dem 19. Jahrhundert geerbt haben, aushöhlen und gefährden. Da sieht man, wie sich die Tyrannei dieses Wertes schädlich bemerkbar macht, wenn er auf einmal die Freiheit des Menschen bedroht. Das Recht kann nur durch Recht gesichert werden und nicht durch geisteswissenschaftlichem Schmuck, wie es die angeblichen Wertesysteme sind. Übrigens ist das Bundesverfassungsgericht längst davon abgekommen, das völlig neutrale Grundgesetz als eine Werteordnung zu verstehen. Recht wird eben durch Recht und nicht durch geisteswissenschaftliche Rhetorik verteidigt.

Auch die Freiheit ist nicht sicher vor dem „Verwertungsverfahren“?

Eberhard Straub: Wenn die Freiheit ein Wert ist, dann kann die Freiheit aufgewertet, abgewertet und umgewertet werden. Dann ist man in diesem ganzen Verwertungsverfahren drin. Dann gerät die Freiheit, die unmittelbar zur Menschenwürde gehört – die ja angeblich unantastbar ist – ins Schwanken und in die Diskussion. Die Werte sind dann dem ganzen modernen Subjektivismus ausgeliefert.

Ist Ihre Kritik an der „Tyrannei der Werte“ letzten Endes auch eine Form der Kapitalismuskritik?

Eberhard Straub: Sicherlich. Wir sind dazu verdonnert, in einem kapitalistischen System zu leben. Wir sehen jetzt auf einmal, dass es seit dem Zusammenbruch des Kommunismus nun einen Neo-Kapitalismus gibt, der viel radikaler ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühte sich der Westen unter dem Druck des Kommunismus, den Kapitalismus sozial verträglich zu gestalten. Jetzt auf einmal sind wir mit einem völlig entfesselten Kapitalismus konfrontiert, bei dem ein reines Wettbewerbs-, Erfolgs- und Leistungsdenken vorherrscht.

Sie sagen, dass Werte ihrer politischen Funktion nach Kampfparolen seien. Öffentliche Wertedebatten vollziehen sich regelmäßig nicht in der zivilisierten Form eines ewigen Gesprächs des liberalen Bürgers mit seinesgleichen, sondern nach Maßgabe eines Freund-Feind-Schemas. Wie bewerten Sie denn – gerade jetzt nach der jüngsten Zuspitzung durch Sarrazin – die öffentliche Forderung an die Muslime, sich den zentralen Werten Europas oder der Aufklärung unterzuordnen?

Eberhard Straub: Da macht man wieder diesen seltsamen Fehler, dass man soziale Fragen, wie die Einwanderung eine ist, zu einer religiösen oder gar einer kulturellen Frage hochstilisiert. In Deutschland herrscht Religionsfreiheit. Jeder darf seinem Glauben nachgehen. Das ist verfassungsmäßig garantiert. Auch ein Muslim hat das Recht, völlig nach seiner Kultur und seinen religiösen Bedürfnissen zu leben. Er muss nur den Verfassungsrahmen des Grundgesetzes anerkennen, der nun unabhängig von der Religion für alle gilt. Das Grundgesetz beruht eben nicht auf Werten, sondern auf das Recht. Und wenn man jetzt einzelnen Ausländergruppen vorwirft, sie würden sich nicht integrieren oder assimilieren, sind das Vorwürfe, die schon vor Hundert Jahren gegen die Ostjuden erhoben wurden. Das gehört zum klassischen Programm des Antisemitismus. Gleichzeitig gehört es zur europäischen Tradition, dass es immer Parallelgesellschaften gegeben hat. Man braucht sich nur die Hugenotten in Berlin anzuschauen. Sie hatten ihr französisches Gymnasium, ihren französischen Friedhof und heirateten auch nur unter sich.

Sie schrieben in einem Beitrag: „Der Türke oder der dämonisierte Islamist können Deutschen, die in ihrer Privatheit nicht reglementiert werden wollen, dabei helfen, sich vor Gleichschaltung in jeder Beziehung zu schützen.“

Eberhard Straub: Die Deutschen haben in der Regel gar keine Ahnung vom Christentum oder vom Islam. Auf der einen Seite reden sie von ihrer Religion, dem Christentum, das sie nicht kennen, und nun versuchen sie damit eine andere Religion, nämlich den Islam, anzugreifen, von dem sie noch weniger Ahnung haben. Die Probleme, die es mit Muslimen gibt, sind Probleme, die auch jede andere religiöse Minderheit haben kann. Es sind in erster Linie soziale und keine religiösen Probleme. Es gibt Religionsfreiheit, und keiner darf in seiner Religionsausübung eingeschränkt oder behindert werden. Es kann auch nicht die Aufgabe von deutschen Parlamenten, Regierungen oder Institutionen sein, den Islam zu kontrollieren oder sich einzumischen, auf welche Art die Muslime nun ihre Religion erklärt bekommen. Das wäre alles unrechtmäßig. Insofern braucht auch der Deutsche, wenn er seine eigene Freiheit verteidigen will, durchaus die Verteidigung der Freiheit der Muslime hier in diesem Lande, wo sie nun einmal rechtmäßig leben.

Braucht der sogenannte freie Markt überhaupt freie Bürger?

Eberhard Straub: Der freie Markt braucht eben keine Bürger, er braucht nur Kunden. Es ist erstaunlich, wie sehr das Wort „Kunde“ auch in der politischen Diskussion den Begriff „Bürger“ verdrängt hat. Wenn der Markt der höchste Wert geworden ist, dann ist nicht mehr der freie Bürger oder der selbstbestimmende Demokrat ausschlaggebend, sondern der zufriedene Kunde. Das bestätigt uns, dass das ökonomische Denken mittlerweile längst das juristische und politische Denken unterhöhlt hat.

Ernst Jünger, der die verschiedenen Epochen des 20. Jahrhunderts als „Seismograf“ begleitete, sagte kurz vor seinem Tod: „Die alten Werte gelten nicht mehr, und die neuen Werte, die sind noch nicht da.“ Aus welcher Richtung oder aus welchem „Ereignis“ heraus könnten neue Werte entstehen?

Eberhard Straub: Mir sind die alten Werte suspekt, weil zur Ökonomisierung aller Lebensbezüge gehörig, neue und andere kann ich mir wiederum im Kapitalismus gar nicht vorstellen. Die Griechen sprachen von arete, die Römer von virtus, die Christen von Tugend, was alles ähnliches meint. Ich weiß nicht, wie das arabische oder persische Wort dafür lautet. Es wird das gleiche meinen. Die Tugenden sind stärker als die wie Börsenkurse flottierenden Werte. Ich denke, über Tugenden kann man sich schnell in unserer Alten Welt untereinander verständigen, wenn man endlich bereit ist, Orient und Okzident als eine große, spannungsvolle Einheit seit Assur und Babylon zu sehen, seit dreitausend Jahren, statt vom Westen zu raunen und von der ganz jungen Atlantischen Gemeinschaft. Aber die Tugend wird von den westlichen Wertegemeinschaftlern verdächtigt, weil sie immer mit der Religion zusammenhängt! Und vor der haben die ratlosen Europäer eine Angst – deswegen ihre Flucht in die beliebigen Werte und ihre Wut auf die Muslime, die an ihrer Religion festhalten wollen, aber auch aus Angst vor der Prognose, an die Papst Johannes Paul intensiv erinnerte: Das 21. Jahrhundert wird ein religiöses Jahrhundert werden. Die westliche Polemik gegen den Islam ist eine Polemik gegen Religion überhaupt.

Lieber Herr Straub, vielen Dank für das Gespräch!

 

1 Kommentar

  1. Gagarin says

    Absolute Wortklauberei. Es geht doch nicht um das Wort „Wert“, sondern um das dahinter stehende Konzept von Grundsätzen, die nicht in Frage gestellt werden dürfen. (Tötungsverbot, Verbot des Diebstahls, Gleichberechtigung von Mann und Frau, also der Dekalog und einige weitere Grundsätze.) Ich finde es schade, dass ein doch kluger und erwachsener Mann aus einer Laune heraus, offenbar erwachsen aus der Langeweile in der westlichen Welt, Derartiges äußert, ohne dass der Interviewer ihn hinterfragt. Antike Philosophie und Christentum (genauer: Religion) sind keine Redensarten, sondern Lebensweisen, aus denen sich Prinzipien ableiten. Wie Straub blendend beweist, sind wir von der Höhe des Denkens in der griechischen Antike noch immer weit entfernt. Straub findet dieses primitivere Dasein gut, seine Sache. Wer nach Erkenntnis strebt, kann dies Interview getrost vernachlässigen.

  2. Sophisto says

    Ich würde am Liebsten die komplette letzte Antwort als Flugblatt herausgeben. Endlich wird die sog. Werteorientierung des Westens richtig eingeordnet, nämlich als Konstrukt zwischen zwei gesellschaftlichen Formationen: Wirtschaft und Religion. Die sog. Werte, oder neu-deutscher: die sog. normative Vernunft, sind nichts weiter als eine ZWISCHENLÖSUNG. Man mag die Wirtschaft nicht, man mag die Religion nicht, aber in der Politik will man mitreden.
    Danke, Herr Straub! Und: Kompliment!

  3. Pingback: Werte, mit denen „auch Dschingis Khan einverstanden gewesen wäre“ | MondoPrinte

  4. Pingback: „…dass so einer nicht mal fuer ein paar Wochen bei einer Palestinaenischen Familie im Westjordanland einzieht“ | MondoPrinte

  5. Pingback: Skandal! CSU-Söder gegen Muslime und Nonnen? | MondoPrinte

Hinterlasse einen Kommentar